Lernsoftware wird überschätzt


von Max F. dippold

Ich fürchte, nur die Autoren selber und die Politiker sind von ihrem Wert überzeugt, zumindest in europa.

Als ich bei der Z A V auslandspraktika in bonn einen Praktikanten suchte, den ich für die Fertigstellung meines Übungsprogramms zur deutschen Grammatik brauchte, belehrte mich die Dame, dass e-learning nichts bringe.

Als einer meiner Helfer seiner Deutschlehrerin die CD mit der Testversion meines Programms gab, schob sie die Hand weg:
br> "Für sowas habe ich keine Zeit !"

Ein anderer Helfer erzählte von seiner Mutter, einer engagierten und erfolgreichen Deutschlehrerin. Zwei Monate brauchte er , bis er die erste Version meines Programms installiert hatte. Der Test?

Seine Mutter habe ihm kurz über die Schulter geschaut, freundlich genickt:
br> "intéressant!"
br> und sei wieder in die Küche gegangen.

Auch mein Enkel hat sie trotz ständigen Bettelns nicht installiert.

Ein Autor von Shareware, ein Amateur, also Liebhaber, ist ein armes, verachtetes Luder!

Zweitens : was ist Lernsoftwware, was ist Lernen.

In der Einleitung zu unserem Übungsprogramm steht ein Spruch von Confucius: "Ich höre. Ich vergesse / Ich sehe. Ich erinnere mich / ich tue etwas. Ich kann es."

Lernen ist ein aktiver Prozess, sprach-erwerb. Da wird eine aktion verlangt, also Interaktivität. So werden Fragen oder Aufgaben gestellt, die der Lerner beantworten muss. Ich verwende die Methode der pattern drills, der Strukturübungen, bei der gleichlautende Strukturen mit wechselnden, gleichartigen Inhalten mindest zehnmal hintereinander eingehämmert werden, damit sich die Synapsen, die Trampelpfade der Sinneszellen, im Gehirn und möglichst in den Tiefen des prozeduralen Gedächtnisses, dort wo das Gehen das Nachsalzen und die Grammatik der Muttersprache sitzen, einprägen. Schwimmen und Radfahren lernt man auch mit einem gut formulierten Fernkurs nicht. Kennen ist nicht können.
Unsere Strukturübungen sind kein Lern-, sondern ein Übungsprogramm für Lernende, die schon einen gewissen Wortschatz haben und die Organisation des Satzes verstehen, dabei aber fehler machen. Die deutsche Sprache mit ihren flexionen und vertrackten Wortstellungen ist besonders fehlerträchtig. Unser Programm entstand aus der Arbeit mit einer polnischen Maturandenklasse, sprechfertigen jungen Leuten, denen der Lehrer aber viele kleine fehler anstreichen musste, speziell bei den deklinationen des attributiven Adjektivs. Der Protest eines schülers lautete:
br> "Nur Sie bringen es fertig, in einem Satz fünf fehler anzustreichen. Der Englischlehrer tut sowas nie."
br> Unser Ziel war also ein fehlerverhütungsprogramm. Dabei wollten wir eine positive Haltung zu den Grammatikfehlern einnehmen :
br> "Fehler sind keine Sünde, Fehler sind keine Schande und keine defizite, Fehler sind Etappen, sind Lernschritte."
br> Deshalb sollen sie nicht analysiert werden. Die Mutter spricht dem Kind einfach die richtige Form vor, der Gastgeber oder der Freund dem Ausländer.

Im Heft aber bleiben die Fehler stehen, rot unterstrichen. Sie könnten sich einprägen. Deshalb haben wir einen Typ von Übungen erfunden (bzw. neu erfunden), bei dem der Lernende keine fehler machen kann. Die meisten Übungen sind Transformationsübungen . Man setzt einen Satz in die Vergangenheit, oder man verbindet zwei sätze mit "weil".

Links auf dem Arbeitsplatz steht die Ausgangsform, die Frage, rechts das formularfeld, in das der Lernende die veränderte Form, die Antwort, eintippt.Tippt der Lernende die richtige, fehlerlose Antwort ein, so erscheint beim Weitergehen mit ENTER die richtige antwort in grüner Schrift. Tippt der Lerner eine falsche, eine unsinnige oder gar keine Antwort ein, erscheint beim Weitergehen mit ENTER die richtige Antwort in roter Farbe.

Zehn "grüne Antworten" in einer Übung sind ein kleines Erfolgserlebnis. Die grünen Antworten werden in der Lernkontrolle zusammengezählt:
br> "Bravo, Sie haben heute 12 richtige antworten auf 80 Fragen."
br> Jede der 45 Lektionen enthält eine grammatikalische einleitung in ganz einfachem Deutsch und daran anschließend zwischen 2 und 16 übungen. Wir weisen darauf hin, dass der Lerner sich um die erklärung der Grammatik nicht unbedingt kümmernmuss, und wenn er nicht weiß, was von ihm verlangt wird, soll er einfach anfangen. Nach der dritten oder vierten roten, richtigen antwort wird er es verstanden haben. Wir suggerieren auch, er solle schummeln und die Übung ein zweites Mal bearbeiten, um diesmal 10 grüne Antworten zu erhalten.

Sprache ist Sprechen. Beim Lernen kommt auch die Motorik des Lernenden zum Zuge : die Vibration der eigenen Stimme und die Bewegung der Sprechwerkzeuge, Kinnbacken, Atembeherrschung, Stimmbänder, Zunge und Lippen verstärken den komplexen Vorgang des Einspeicherns und Behaltens von strukturierten Informationen. Mit den kostengünstigen Headphones und rauscharmen Microphonen für Telefonisten sowie einem ergonomisch durchdachten Aufnahmeprogramm wie easywave ist es heute ein Leichtes, sprachaufnahmen außerhalb eines tonstudios zu realisieren. An jede der 342 Übungen kann eine mp3-Datei angehängt werden : der sprecher liest nach einer kurzen, launigen anmoderation die 10 Antworten und lässt nach jeder eine gleichlange Pause, in die hinein der Lerner das gehörte nachsprechen soll.

Wir bemühen uns gerade zwei oder drei männliche stimmen und eine oder zwei weibliche zu gewinnen, bevorzugt Alto-stimmen, da schrille Kopfstimmen nicht hundertprozentig verstanden werden. (In audio-Filmen werden weibliche Stimmen oft vom Orchester, von Schlachtgetümmel oder Meeresbrausen übertönt, während die leicht knarrenden Stimmen männlicher bayrischer oder fränkischer sprecher am besten rüberkommen).Bereits in der ersten Version unseres Programms hatten wir die Lernenden ermutigt, laut, sehr laut, die Antworten zu sprechen.

In einem anderen Programm, einem Lernprogramm der Haussasprache, kommt zunächst der passive Lernmodus:
br> in 100 tthematischen Lektionen laufen je 12 Haussa-sätze in Ton und großer reliefschrift in einer endlosschleife ab, darunter jeweils in blassem Grau die Bedeutung auf Französisch, mit einstellbarem timer von 5 bis 25 Sekunden. Der Lernende hört und sieht sich das an, lässt es zweimal, dreimal durchlaufen und spricht nach oder mit. Auf wunsch kann er die grammatikalische erklärung als Pop-up mit einem Klick auf das entsprechende Icon ein- und wieder ausblenden, und die Schleife wird so lange angehalten.

Dann wechselt man in das Modul Revision , entweder von Haussa zu Französisch oder umgekkehrt. Je nach Auswahl einer Lektion laufen nun dieselben 12 Sätze ab, in großer schrift der Satz in Haussa, darunter drei blinkende Punkte, in die der Lerner die übersetzung einträgt. In einem anderen Modull namens Lernkontrolle werden dann die richtigen Antworten auf eine Anzahl Fragen compiliert, keine Schulnoten, keine Prozentzahlen. Hier wird auch die Zahl der Arbeittsstundenzusammengezählt. Wenn übrigens eine Lektion im Lernmodus oder Révisionsmodus zum erstenmal geöffnet wird, verändert sich die Schrift des Titels im Index von dunkelblau zu hellblau. Will man dieses Protokoll oder die Lernkontrolle löschen, muss man das ganze Programm löschen und neu installieren. Auf einen Eintrag mehrerer "Spieler", die sich untereinander messen sollen, haben wir bewusst verzichtet, denn aufdringlich darf das Programm nicht werden.

Dazu habe ich einen Modus "Révision assistée" Entworfen:
br> Phase 1: Frage und Antwort werden eingeblendet.
br> Phase 2: die Frage wird eingeblendet, der Lerner tippt die Antwort, hier die Übersetzung, ein. Ist die antwort falsch, wird Phase 1 (anzeige von Frage und antwort) wiederholt. Ist die Antwort richtig, wird in Phase 3 die Phase 2 wiederholt, also die
Frage, und die Antwort ist noch einmal einzutippen. Ist sie falsch, geht es zurück zu Phase 1, Frage+Antwort, ist sie richtig, geht es weiter zur ersten Phase eines neuen Satzes.

Ein einfaches Beispiel:
br> Die Hauptstadt von Norwegen heißt Oslo.
br> Wie heißt die Hauptstadt von Norwegen? ...
br> Richtig! Wie heißßt die Hauptstadt von Norwegen? ...
br> Richtig!
br> Die Hauptstadt von Schweden heißt stockholm.
br> Und so weiter!

Die "direkte Methode" ist das schwer erreichbare Ziel des Lehrers. Sie mag schon im Kindergarten funktionieren oder in einem anfängerkurs, wenn man ein Bilderbuch oder eine filztafel zur Verfügung hat. Über die konkreten Umstände des täglichen Lebens kommt man aber nicht hinaus. Wie kann man erreichen, dass der Lernende in der Fremdsprache, in deutsch oder Haussa, denkt und nicht dauernd übersetzt ? Afrikanische analphabeten machen keine Grammatikfehler in Französisch, es gibt kein "Petit Nègre".

Wir haben nur wenige möglichkeiten. In unserem Lernprogramm zur Haussasprache haben wir einen Modus Images, sprechende bilder. Das sind zwölf Kapitel mit je 9 Illustrationen : Tiere, Obst und Gemüse, Was tun diese Kinder, das Gesicht, ein Tagesablauf, Verkehrsmittel und Audienz beim König.

Jedes Bild hat drei oder vier Ebenen.
br> Ebene 1: Man klickt auf die Zeichnung, und die stimme nennt den Gegenstand.
br> Ebene Zwei: In Zufallsfolge (random order) läuft die frage ab:
br> "Zeige mir das Kamel !"
br> Bei richtigem Klick antwortet die Stimme:
br> "Richtig!"
br> Beim falschen Klick auf eines der anderen acht bilder sagt die stimme:
br> "Nein, das ist der Esel. Zeige mir das Kamel !"

Redundanz und Monotonie sind gleichermaßen dem akustischen Lernen abträglich. So haben wir für die Lektionen und die bilder insgesamt fünf Sprecher, eine frau, einen Erwachsenen und drei Junge Leute. Bei der richtigen antwort muss das Lob abwechseln. Wir haben 10 verschiedene anerkennungen auf Deutsch ("Richtig", "Stimmt genau", "Bravo", Siehst du", "Immer besser"). Es ist wichtig, dass diese in Zufallsfolge ablaufen.

Auf Ebene drei kann man fragen:
br> "Welches Tier trägt das Brennholz herbei?" - "Welches Kind stampft Hirse ?"
br> Geantwortet wird immer wieder in wechselnder reihenfolge :
br> "Gratuliere!" oder "Nein, der Junge da spielt fußball. Zeige mir das Mädchen, das Hirse stampft !" oder "Nein, das ist der Krämerladen. Zeig mir die Schule !"
br> Sinn der banalen Übung ist die Illusion eines Dialogs und das Gefühl des Lernenden, einige wenige dinge und sätze direkt, ohne Umweg über seine Muttersprache, zu verstehen.
Eine andere Übung, die aber schnell ermüdet, lautet : Zeige mir das Brot, die Zwiebeln und die gombos in dieser reihenfolge.

Auf Ebene vier haben wir eine Art Puzzle gebaut. In der Phase 1 hatte der Lernende die Bezeichnungen der Gegenstände erfahren, hier beginnt nun das farbige Bild als graue Kopie (Funktion "Relief" in Paint Shop Pro) . In fester Reihenfolge fragt nun die Stimme:
br> "Zeige mir den Königspalast."
br> Beim richtigen Klick auf die graue silhouette wird eines der neun farbigen Teilstücke eingefügt, d. h. das Bild 12-4-2.jpg aufgerufen. Nun fragt die Stimme weiter nach den Leibwächtern, den Musikanten, dem Pferd des Königs, dem thron und am schluss nach dem König, und das Bild ist komplett.

Zurück zu unserem Übungsprogramm zur deutschen Grammatik: Wir verwenden verschiedene Formen, zum Beispiel Transformationsübungen, Lückentexte, Kreuzworträtsel und Wordpuzzles, aber alle haben eines gemeinsam: der Lernende muss eine antwort an einer bestimmten Stelle in ein formularfenster mit sichtbarem oder unsichtbarem rahmen eingeben, was mit einer Maus kein Problem ist.

Und hier fängt nun die Misere mit der Barrierefreiheit an. Um die Schlussfolgerung vorweg zu nehmnen: Der Screen Reader,welcher auch immer, liest, was da steht. Man darf keine Anforderungen an den Screen Reader stellen, man muss sie an die Software stellen. Und da kommen wir nun zum Konflikt mit unseren werkzeugen.

Autor und Programmierer hassen sich : Der erste fantasiert frei vor sich hin und verlangt technisch Unmögliches, der zweite ist unsensibel für effekte und Layout. Dabei kann er doch immer alles? Der Autor schreibt seinen Text in MS Word, am besten mit der Tabelle. Excel taugt nicht, zu groß, zu komplex!
Bei der tabelle kann ich die Spalten und Zeilen begrenzen. Ich schreibe also in Zeile 1, spalte 1 eine Codenummer-a, in Spalte zwei die Frage, in Spalte 3 die Codenummer-b, in spalte 4 die Antwort. Schnell huscht die Feder über das Papier, noch etwas Streusand oder Löschpapier, und fertig!

Der Programmierer sieht das ganz anders. Und jetzt kommen wir zum Problem,
warum interaktive software für Blinde kaum nutzbar ist:
br> Der Tab hat eine mehrfache funktion : im Textmodus rückt er den Anfang der Zeile ein, in der tabelle springt er von Zelle zu Zelle, im Htm-Modus, auf der Webseite, springt er von Link zu Link . Um in ein Formularfeld zu gelangen, muss ich den Buchstaben F tippen.

Der gehört aber schon zum schreibmodus. Daran liegt es. Die Werkzeuge sind inkompatibel. An Universitäten wurde schon darüber diskutiert, Barrierefreiheit und interaktive Programme!

In der ersten, in Delphi programmierten Version meiner Übungssoftware kann ich etwas tun, wenn mir eine sehende Hilfe den Cursor an die richtige Stelle setzt. Auch in die Hilfe-Datei gelange ich noch.

Die neueste Version meiner software ist in Java, und wenn ich da auf `Strukturübungen.jar` klicke, höhre ich gar nichts, nicht einmal den Text des eingangsbildes. Der blinde autor einer Lernsoftware kann sein eigenes Programm nicht hören und nicht nutzen!

Mein Programmierer tröstet mich : von 15 Millionen Schülern und studenten in Frankreich sind 4500 Grund- und sekundarschüler sowie 250 Studenten blind, in Mali wären es von den 55.000 Deutschlernern etwa 150. Die müssten dann eben auf unser Programm verzichten. Wenn sie es überhaupt je nutzen wollten ... ?

Dies sind einige Erfahrungen aus dem Nähkästchen eines Software-Autors.

Offensichtlich gibt es aber Lösungen, die mir noch nicht zugänglich sind. So wurde über eine Konferenz zum Thema "e-learning für Blinde" berichtet, die vom 17. bis 19. Juni 2008 in Rostock stattfand.Die Inhalte und Ergebnisse sind mir leider nicht zugänglich.Dazu wären sie in Deutsch.



Max F. dippold
br> Professeur d'allemand
br> F-79140 Combrand
br> Tel. 0033 549-8 12 92

Mail an den Autor senden:
br> keyline@wanadoo.fr



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